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Höher, schneller, weiter? OK, Boomer

18. Februar 2023
 · 
20 min Lesezeit

Nach der Corona-Pandemie schlagen Politik und Institutionen Alarm. Denn Kinder und Jugendliche sind unbeweglicher und dicker geworden. Was übersehen wird: Übergewicht ist nicht das drängendste Gesundheitsproblem der Post-Millenials. Doch leider wird immer noch viel zu häufig über die Jugend statt mit ihr gesprochen. Derweil geht die Schere zwischen den Generationen auch im Sport weiter auseinander.

Aus heutiger Sicht wissen wir, dass besonders Kinder und Jugendliche unter der Pandemie und den Maßnahmen zu ihrer Eindämmung litten.

Ein ungewöhnlich warmer Nachmittag im April 2020. Das saftige Grün des Frankfurter Niddaparks leuchtet in der grellen Sonne. Menschen spazieren, joggen und fahren Rad, alleine oder zur zweit, immer mit einer Armlänge Abstand zueinander. Die typische Unbeschwertheit des Frühlings wird von einer bis dato nicht gekannten Form der Achtsamkeit flankiert. Doch die Vögel singen ihr Lied, denn sie wissen nichts von der Pandemie. Der Park gleicht einer morbiden Idylle.

Plötzlich mischen sich entfernte Rufe in das Zwitschern, Bewegung ist zwischen den Bäumen auszumachen, dort wo das große Tor das Betreten der Bezirkssportanlage verhindern soll. Mit einem Mal sind Dutzende von Jugendlichen an der Innenseite des Tors, springen aus vollem Lauf daran empor, immerhin zwei Meter, ziehen sich hoch und lassen sich auf die andere Seite fallen. Immer mehr werden es, wie eine Herde Lemminge auf der Flucht versuchen sie, aus der eigentlich gesperrten Anlage herauszukommen.

Der Grund dafür nähert sich mit Blaulicht: Ein Streifenwagen der Polizei ist von der Straße auf das Gelände gefahren. Die Beamten sollen sicherstellen, dass die geltenden Kontaktbeschränkungen des Lockdowns eingehalten werden. Doch alle Jugendlichen schaffen es, rechtzeitig mit ihren Bällen zu entkommen. Die drei Fußballkäfige und der 3x3 Basketball Street Court bleiben verwaist zurück.

Aus heutiger Sicht – drei Jahre später – wissen wir, dass besonders Kinder und Jugendliche unter der Belastung der Pandemie und den Maßnahmen zu ihrer Eindämmung litten. Eingeschränkte Sozialkontakte, fehlende Freiräume für die persönliche Entfaltung und innerfamiliäre Konfliktsituationen in engen Wohnungen griffen die jugendliche Psyche an. Dazu kam das gesellschaftliche Klima der Unsicherheit und Angst, sowie später zunehmender Aggression - welche*r Sechzehnjährige kann da noch voller Zuversicht an positiven Zukunftsentwürfen basteln?

Die seelenlose Debatte der Gesundheitspolitik

Trotz Verbot trafen sich unzählige Jugendliche und Kinder täglich auf der Sportanlage, spielten Fußball und Basketball. Weil es sich für sie richtig anfühlte. Weil Sport helfen kann, seelische Belastungen zu überwinden oder wenigstens kurz zu vergessen.

Jugendliche sind sich dieser Wirkung durchaus bewusst. Sport wird gezielt gegen negative Emotionen eingesetzt und empfohlen, wie diese Konversation aus einer Facebook-Gruppe junger Lifestyle-Enthusiasten zeigt:

Konversation aus einer Facebook-Gruppe: Sport ist für junge Menschen ein wichtiges Ventil für seelischen Druck.

Der Gesundheitsaspekt spielt bei der Betrachtung von Sport generell eine wichtige Rolle. Bezogen auf Kinder und Jugendliche liegt der Fokus in Politik und Medien jedoch oft auf dem Bewegungsmangel und daraus resultierenden körperliche Einschränkungen sowie Übergewicht. Mental Healthcare als sportlicher Benefit kommt häufig zu kurz, denn das Thema wird nach wie vor gesellschaftlich tabuisiert.

Die Deutsche Adipositas Gesellschaft schlug im Juni 2021 Alarm:

  • 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind in der Pandemie dicker geworden
  • 44 Prozent der Kinder und Jugendlichen bewegt sich weniger als vor der Pandemie
  • Bei 43 Prozent der Kinder und Jugendlichen belastet die Pandemie die seelische Stabilität „mittel“ oder „stark“

So lange der lebensweltliche Aspekt bei den Ursachen für kindlichen Bewegungsmangel reflexartig auf den angeblich negativen Einfluss von Smartphones und Videospielen reduziert wird, aber den Autofetisch, das Discount-Fleisch und stundenlanges Arbeiten im Sitzen außer acht lässt, wird keine nachhaltige Veränderung hin zu weniger Übergewicht in der Gesellschaft eintreten.

Das sind nur drei der take-aways der Forsa-Studie. Was auffällt: Die seelische Belastung wiegt offenbar schwerer (sic!) als die Gewichtszunahme der Kinder und Jungendlichen. Obwohl Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im Gespräch mit einer deutschen Boulevardzeitung noch darauf hinwies, dass Sport „der beste Weg“ sei, um die psychischen Folgen von Krisensituationen abzufedern, wurde in der Folge nur noch über dicke Kinder diskutiert und wie diese wieder zu mehr Bewegung animiert werden können. Dabei unterstreicht eine Untersuchung des Robert-Koch-Instituts (RKI) im Jahr 2021 die psychosozialen Belastungen als Folge des Lockdowns:

Für einen Psychotherapieplatz beträgt die durchschnittliche Wartezeit in Deutschland rund fünf Monate. Zudem sind psychische Erkrankungen die häufigste Krankenhausdiagnose junger Menschen. In den USA, die in jugendkulturellen Entwicklungen oftmals Vorreiter für deutsche Verhältnisse sind, stieg die Quote der Jugendlichen, die sich anhaltend traurig oder hoffnungslos fühlen, von 28 Prozent in 2011 auf 42 Prozent in 2021. Doch das seelische Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen spielte in der geführten Debatte um Bewegungsmangel eine untergeordnete Rolle - eine Depression zeigt sich eben nicht wie eine Bauchfalte.

Neben Mental Health blieb ein weiterer Aspekt unbeachtet: Übergewicht und Adipositas sind keine Kinderkrankheiten. Das Gegenteil ist der Fall, wie das RKI in einer anderen Erhebung zeigt:

Quellen: Robert Koch-Institut (2022), Deutsche Adipositas Gesellschaft (2022)

Mehr als die Hälfte aller Erwachsenen ist übergewichtig. Die Deutschen sind ab dem 45. Lebensjahr rund vier mal häufiger übergewichtig als Kinder und Jugendliche. Das ist ein dickes Problem. Nicht nur, weil Übergewicht und Adipositas nachweislich Herz-Kreislauf-Erkrankungen zur Folge haben und bei dieser Häufung das Gesundheitssystem über Maßen strapazieren. Sondern auch, weil Kinder in Lebenswelten hineingeboren werden, in denen übergewichtige Erwachsene die Wahrnehmung dominieren:

Das gesundheitliche Risiko reproduziert sich selbst. Doch statt auf die Menschen einzuwirken, die nicht nur die meisten Übergewichtigen stellen, sondern zudem als Eltern auch die wichtigsten Bezugspersonen ihrer Sprösslinge sind, fokussiert sich die Öffentlichkeit mit erhobenem Zeigefinger auf diejenigen, die den problematischen Vorbildern auf Gedeih und Verderben ausgeliefert sind: Kinder.

Dieses Manöver führt in einen Teufelskreis, der sich nicht allein mit mehr Schulsport durchbrechen lässt. Denn so lange der lebensweltliche Aspekt bei den Ursachen für Bewegungsmangel reflexartig auf den angeblich negativen Einfluss von Smartphones und Videospielen reduziert wird, aber den Autofetisch, das Discount-Fleisch und stundenlanges Arbeiten im Sitzen außer acht lässt, wird keine nachhaltige Veränderung hin zu weniger Übergewicht in der Gesellschaft eintreten.

Prof. Karl Lauterbach weist wiederholt auf die Relevanz von Sport für die geistige und seelische Entwicklung hin. In der Berichterstattung dominieren indessen dicke Kinder.

Sport in den kleinen Lebenswelten der Jugendlichen

Es ist ein großer Unterschied, ob beispielsweise Skateboarding als Sport oder als ästhetische Gesinnungs-Genossenschaft untersucht wird.

Grundsätzlich ist das Bemühen seitens der staatlichen und institutionellen Akteure gering, jugendliche Lebenswelten in die Überlegungen zu Gesundheits- und Sportpolitik einzubeziehen. Wenn es doch geschieht, dann werden sie meist als Lern- und Bildungsorte aus der Beobachterperspektive von Erwachsenen betrachtet. Das subjektive Erleben von Jugendkultur ist selten Gegenstand von Diskussionen rund um Sport- und Bewegungsangebote. Deshalb fallen viele der so genannten kleinen sozialen Lebenswelten der Jugendlichen unter den Tisch:

Es ist ein großer Unterschied, ob beispielsweise Skateboarding als Sport oder als ästhetische Gesinnungsgenossenschaft untersucht wird. Letzteres bezieht eine Vielzahl kultureller Aspekte mit ein, die für die Betrachtung des Sports keine Rolle spielen: Musik, Fashion, Medien, Sprache, Marken, Habitus, Codes und ein geteiltes Wertesystem.

Skateboarding, wie der Sport es versteht

Diese Aspekte sind essenziell für das Verstehen von jugendlichen Lebenswelten, wie sie etwa die Szenenforschung am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Dortmund zusammenträgt:

Skateboarding, wie Skateboarder es verstehen

Ob Skateboarding, Parkour, Fußball oder Fitness: Alle jugendrelevanten Sportarten haben ihre eigenen Sinnbezüge, die auch und gerade außerhalb des Sports existieren. Diese Bezüge können zu Anerkennung oder Ablehnung von Sportarten führen:

Werden die kleinen sozialen Lebenswelten der Jugendlichen nicht in die Überlegungen zur Sportentwicklung mit einbezogen, sind die Handlungsspielräume deutlich enger. So definiert etwa der Vierte Kinder- und Jugendsportbericht der Krupp-Stiftung den Sport als Bündel systemimmanenter Merkmale, ohne die er seine Daseinsberechtigung verlieren würde:

Dieses Denken wird den jugendlichen Lebenswelten im 21. Jahrhundert nicht mehr gerecht. Der Wettbewerb mag in in den Spielsportarten, allen voran dem Fußball, noch einen großen Reiz ausüben. Doch klassische Vereinssportarten wie Turnen, Leichtathletik oder Schwimmen tun sich schwer, Kinder bis in das Erwachsenenalter zu binden. Dabei sind es doch die Sportvereine, die über den Zugang zum organisierten Wettbewerb mit beispielsweise Ligabetrieb oder sportlichen Wettkämpfen verfügen.

Quellen: DOSB Bestandserhebung 2019, Statistisches Bundesamt

Quelle: Bundesinstitut für Sportwissenschaft, Sportsatellitenkonto 2019

Das kompetitive Kräftemessen findet heute vor allem auf der Konsole und vor dem PC statt: Gaming und E-Sports bieten einfacheren Zugang zu Wettbewerben, führen schneller zu Erfolgserlebnissen und haben deutlich attraktivere Belohnungssysteme für gute Leistung. Der E-Sportbund Deutschland geht von 3 Millionen E-Sport-begeisterten Menschen im Land aus.

Das neue Sportverständnis: Selbstoptimierung als zentrales Motiv

Das ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der adoleszenten Entwicklung von sportlichen Kindern zu unsportlichen Zockern im Teenager-Alter, die stundenlang vor dem Bildschirm sitzen und sich von Chips und Energydrinks ernähren, wie die Sinus-Jugendstudie im Jahr 2020 erstmals bestätigte:

Heranwachsende treiben mit zunehmendem Alter also nicht weniger, sondern anders Sport – nämlich zunehmend selbstorganisiert, belegt eine weitere Studie des Bundesinstituts für Sportwissenschaft im Jahr 2019. Grundsätzlich verändert sich die Bedeutung des Sports in den jugendlichen Lebenswelten, mit denen sich das Sinus-Institut seit geraumer Zeit beschäftigt. Die Forscher*innen nehmen zwar nicht die kleinen sozialen Lebenswelten unter die Lupe. Doch sie verfolgen einen Ansatz, der wie in den anderen Sinus-Milieumodellen Jugendliche gruppiert, die sich in ihren Werten, ihrer grundsätzlichen Lebenseinstellung und Lebensweise sowie in ihrer sozialen Lage ähnlich sind.

Das SINUS-Lebensweltenmodell für Jugendliche verdichtet die soziokulturelle Vielfalt der jugendlichen Lebenswelten in Deutschland zu „Gruppen Gleichgesinnter“ entlang zweier Dimensionen (angestrebte Bildung und normative Grundorientierung) Grafik: Sinus-Institut

Erstmals wurde 2020 im Rahmen der wiederkehrenden Studie auch das Sportverhalten abgefragt. Die wichtigsten Sportmotive junger Menschen im Alter von 14 bis 17 Jahre sind

  • die eigene Gesundheit
  • das Auspowern
  • die Gemeinschaft mit anderen Jugendlichen
  • das Erreichen sportlicher Ziele (für sich allein oder im Team)
  • Spaß am Sport
  • Training mentaler Stärke
  • Beitrag zu gutem Aussehen

Diese Motive werden dabei von beiden Geschlechtern gleichermaßen und über alle Milieus hinweg genannt. Jedoch setzen unterschiedliche Milieus verschieden Schwerpunkte: Jugendliche aus den Mainstream-Lebenswelten betonen beispielsweise die soziale Anschlussfähigkeit und Zugehörigkeit, während bei Konsum-Materialisten, aber auch unter den expeditiven und adaptiv-pragmatischen Milieus das Optimieren des eigenen Aussehens eine große Rolle spielt.

Was dem klassischen Sportverständnis jedoch zuwider läuft:

Heranwachsende treiben mit zunehmendem Alter nicht weniger, sondern anders Sport. Die Bedeutung des Sports in den jugendlichen Lebenswelten verändert sich.

Das kann ein Erklärungsansatz sein, warum Jugendliche in der Adoleszenz das Interesse am organisierten Sport verlieren. Ein anderer Grund ist der Markt. Kommerzielle Sportanbieter richten sich konsequent nach den Bedürfnissen junger Erwachsener. Ob Gesundheit, Auspowern, das Erreichen sportlicher Ziele oder ein besseres Aussehen: Neue Marktteilnehmer wie Freeletics formulieren die persönliche Entwicklung als zentrales Versprechen ihres Angebots: Stärker, fitter, besser. Bist du bereit für dein neues Ich? In der Konsequenz zählt der Besuch von Fitnessstudios geschlechterübergreifend zu den beliebtesten Sportaktivitäten von Jugendlichen aus allen Milieus.

Aspekte wie die Verbesserung der eigenen Gesundheit, Ästhetik und körperlichen Funktionalität lassen sich unter dem Konzept der Selbstoptimierung subsumieren. Ein Forschungsteam des Instituts für Sportwissenschaft an der Wilhelms-Universität in Münster sieht darin einen Trend:

Vorschub für diese Entwicklung leistet die Digitalisierung des Sports. Apps und Plattformen wie Strava ermöglichen präzise Erfassung, Dokumentation und Analyse von Trainingsleistungen und Vitalparametern. Verbunden mit immer neuen Herausforderungen, Belohnungssystemen und Vergleichsmöglichkeiten mit der gesamten Community stellen diese Angebote eine zeitgemäße Form von Vereinswesen und Wettbewerb dar. Alles ist auf das individuelle Erleben und die persönliche Entwicklung abgestimmt.

Klassische Sportvereine adressieren stattdessen eher die soziale Anschlussfähigkeit und Zugehörigkeit. Viele Vereine sind auf ehrenamtliches Engagement angewiesen. Das solidarische Miteinander ist in der DNA des deutschen Vereinswesens festgeschrieben. Wenn der Vierte Kinder- und Jugendsportbericht den organisierten Sport als funktionales Teilsystem der Gesellschaft definiert, hat er genau das im Sinn. Vereine verstehen sich als Orte des gesellschaftlichen Austauschs und Zusammenhalts. Mit dieser Haltung werden sie langsam, aber sicher vom Zeitgeist abgehängt:

@freeletics ‼️Bootcamp 2023 is here‼️ Joining our Bootcamp is one of the biggest decisions you’ll make, but once you’re in, we’ll be there to help you every step of the way. The Freeletics Bootcamp only happens once a year, in #M#MunichIt’s your chance to train at the Freeletics HQ with some of our best trainers and professional nutritional support. All we expect is commitment. So what are you waiting for? It’s time to enter ⚡️your badass era⚡️ ➡️Apply via link in bio or bit.ly/FLbootcamp23 and comment below if you’re interested in joining! ?? #FreeleticsBootcamp #bootcamp #transformation #fitness ♬ original sound - Freeletics
Die Ohnmacht einer politischen Generation

73,1 Prozent aller deutschen Sportvereine gestehen den jugendlichen Mitgliedern kein Stimmrecht in der Hauptversammlung zu, 45,3 Prozent lassen Jugendliche generell nicht vereinspolitisch partizipieren.

Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Jugendlichen an der gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit ihres Handels zweifeln. Paradoxerweise fällt die Generation Z stärker durch politisches und zivilgesellschaftliches Engagement auf als die zwei vorangegangenen Generationen. Bestens vernetzt setzt sie auf globaler Ebene die Agenda und agiert lokal vor Ort. In der Klimapolitik hat diese Generation eine Bewegung losgetreten, wie sie seit den 1968er Jahren nicht mehr zu erleben war. Ob Fridays for Future, die weltweit Demonstrationen mit Millionen Teilnehmer*innen organisieren oder die Letzte Generation, die zivilen Ungehorsam für die Erzeugung von Aufmerksamkeit nutzt: Diese Jugend will Gesellschaft gestalten.

Luisa Neubauer hat das Spiel mit der Selbstoptimierung durchschaut: Echter Wandel will gesellschaftlich angestoßen werden.

Sie traut den etablierten Institutionen und dem trägen Politikbetrieb jedoch nicht zu, die notwendigen Veränderungen mit adäquaten Maßnahmen selbst herbeizuführen. Also baut sie außerhalb des politischen Apparats Druck auf, um diese Veränderungen zu erzwingen.

Das sollte auch dem organisierten Sport eine Lehre sein, der händeringend nach ehrenamtlichen Helfer*innen sucht, aber gerade unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen wenig Zuspruch findet. Mit dem Ehrenamt soll eine Stärkung der persönlichen Kompetenzen einhergehen, auch bietet es die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Das Ehrenamt übernimmt eine überlebenswichtige Funktion im Vereinswesen. Doch für Jugendliche sind auch hier die Gestaltungsräume begrenzt: 73,1 Prozent aller deutschen Sportvereine gestehen den jugendlichen Mitgliedern kein Stimmrecht in der Hauptversammlung zu, 45,3 Prozent lassen Jugendliche generell nicht vereinspolitisch partizipieren. Wo soll das Interesse also herkommen bei einer Jugend, die von Kindesbeinen auf gelernt hat, sich mittels digitaler Infrastruktur selbst zu organisieren und eigene gesellschaftliche Räume auszugestalten?

Beteiligungsmöglichkeiten bzw. Ämter für die Jugend (unter 18 Jahren) in den Vereinen (Anteil an Vereinen in %)Anteil an Vereinen
JugendvertreterIn/JugendwartIn/JugendreferentIn mit Sitz im Gesamtvorstand31,9%
Stimmrecht der Jugendlichen in der Hauptversammlung26,9%
Wahl der Jugendvertretung durch die Jugendlichen22,7%
Wahl eines/r Jugendlichen als JugendsprecherIn18,4%
Eigener Jugendvorstand bzw. Jugendausschuss13,9%
Wahl der Jugendvertretung auf Abteilungsebene durch die Jugendlichen7,5%
Sonstige Möglichkeit der Partizipation der Jugend6,8%
Keine dieser Ämter bzw. Beteiligungsmöglichkeiten45,3%
Quelle: Sportvereine in Deutschland:
Ergebnisse aus der 8. Welle des
Sportentwicklungsberichts

Der Versuch, junge Menschen für altehrwürdige Strukturen zu begeistern und ihnen gleichzeitig Gestaltungsspielräume zu verwehren, kann nicht gut gehen. Das zeigt die Transformation, die aktuell der Arbeitsmarkt erfährt. Dort verabschiedet sich die Generation der Babyboomer gerade in den Ruhestand und die Vertreter*innen der Generation Y rücken nach.

Das Konfliktpotential ist groß. Doch zumindest auf dem Arbeitsmarkt wendet sich das Blatt zu Gunsten der Jungen. Weil die Unternehmen zunehmend mit Personalmangel zu kämpfen haben, lassen sie sich die Arbeitsbedingungen von der nachfolgenden Generation diktieren. Ob SCRUM, hybrides Arbeiten, flexible Arbeitszeitmodelle, Job Bikes oder Girls Day: Diese Errungenschaften der Gen Y lösen langsam aber sicher den Arbeitsethos und die Statussymbole der Boomer ab: Die 60-Stunden-Woche, das pralle Flugmeilen-Konto, der Firmenwagen mit Stern und starre Hierarchien werden zunehmend unpopulär.

Diese Entwicklung regelt tatsächlich der Markt. Dessen Gesetze greifen allerdings nicht in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Da sieht es nach wie vor so aus:

Warnte bereits vor über 100 Jahren vor der Überhöhung von Traditionen: Der Soziologe Max Weber

Ähnlich zeichnet sich das Bild im Sport. Dieser lebt – quasi hybrid – in beiden Welten: Der überwiegende Teil findet in selbstorganisierten Umfeldern statt und wird durch kommerzielle Angebote geprägt. Hier entstehen die neuen Sporttrends in ästhetischen Gesinnungsgenossenschaften, die Digitalisierung ist weit fortgeschritten und Selbstoptimierung ist die wichtigste Motivation. Junge Erwachsene und Jugendliche sind als kaufkräftige Zielgruppen maßgeblich für die Entwicklung und Vermarktung von Sportangeboten.

Der weitaus kleinere Teil findet sich in den organisierten Strukturen, die an der langen Tradition des deutschen Vereinswesens festhalten und diese Tradition per se als wichtigen Wert verstehen. Das sich daraus ergebende Dilemma benannte der Soziologe Max Weber bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Traditionelles Handeln ist kein sinnhaftes Handeln. Die generationellen Konfliktlinien lassen sich nicht durch teure Werbekampagnen für das Ehrenamt lösen. Erst eine echte Partizipationsmöglichkeit für Jugendliche an der Führung und Ausgestaltung institutioneller Sportorganisationen und deren damit einhergehenden Transformation kann dazu führen, junge Menschen in der Adoleszenz nicht an die andere Sportwelt zu verlieren.

Pics, or it didn't happen

Selbstoptimierung ist für junge Menschen ein zentrales Sportmotiv. Oft geht es einher mit der Selbstdarstellung. Bereits in den 1980er Jahren war das Bodybuilding in Abgrenzung zum Leistungssport kein Vergleich von Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit und Koordination, sondern eher in der Nähe von Schönheitswettbewerben verortet: Primär geht es im Bodybuilding um Ästhetik.

Nur gucken, nicht anfassen: Bodybuilding ist kein Zahlensport.

Nun ist auch diese Sportart in die Jahre gekommen, nicht jedoch das Motiv, mit der eigenen Entsprechung eines gesellschaftlichen Körperideals zu glänzen. Die Role Models des neuen Ideals posen heute nicht mehr auf einer Bühne, sondern präsentieren ihre durchtrainierten, tätowierten Körper auf dem Rasen der internationalen Fußballstadien und vor allem – im social web.

Gerade Bilder- und Videoplattformen wie Instagram und Tiktok befeuern den neuen Körperkult, der dank des umstrittenen Rappers Kollegah seine ganz eigene Marke erhielt – die Bosstransformation. Das Netz ist voll mit Vorher-/Nachher-Vergleichen ds eigenen Körpers. Da der schwabbelige Bauch an Tag 1 der Transformation, da der Sixpack nach 12 Wochen. Die immanent damit verwobene Botschaft an Betrachter*innen lautet: Ich war wie Du. Wenn Du es wirklich willst, kannst Du es auch schaffen!

Einem Körperideal zu entsprechen wird mit gesellschaftlicher Akzeptanz, Stärke, Erfolg und Selbstbewusstsein gleichgesetzt. Dieses Ziel zu erreichen ist also ungleich wertvoller als vielleicht im nächsten Lauf über 100 Meter zwei Hundertstelsekunden schneller zu sein als die Mitläufer*innen. Es greift zu kurz, den Kindern und Jugendlichen diese Haltung zum Vorwurf zu machen:

Bereits im Jahr 2002, als viele Vertreter*innen der Generation Z noch gar nicht geboren waren, konstatierte die 14. Shell Jugendstudie den Jugendlichen, sie seien Ego-Taktiker.

Das Dogma der Leistungsgesellschaft modernen Zuschnitts prägte diese Generation mehr als die vorangegangenen Generationen. Ihre Kinder führen heute mit ästhetischen Mitteln konsequent fort, was die Elterngeneration ihnen vorlebte. Das ist äußerst pragmatisch, denn ihre Bildsprache ist universell verständlich und längst der Globalisierung unterworfen. Landesgrenzen und Sprachbarrieren sind für die Gen Z kein Hindernis mehr, um ihr Publikum zu finden. Genau darum dreht sich diese Form der medialen Vermittlung von Körperästhetik: Das Wohlwollen eines virtuellen Publikums, das sich in Likes und Shares bemisst.

@justinkubecki

7 Monate „Boss“ - Transformation ??

♬ original sound - xxtristanxo

Die Bosstransformation zeigt Wirkung. Selbstoptimierung at it's best.

Dabei beschränkt sich die Darstellung nicht nur auf schöne Körper, sondern beinhaltet auch spektakuläre Sportinszenierungen ohne Wettkampfbezug. Ob Freestyle-Tricks in der Halfpipe, Downhill-Action auf dem Trail oder Freerunning über den Dächern Berlins: Je spektakulärer, cooler und szenischer, um so erfolgreicher sind die Clips, in denen keine Stoppuhr mitläuft und kein sachkundiger Kommentar die Leistung für das Publikum einordnet.

Diese Videos erreichen Millionen Menschen, obwohl ihre Protagonisten keine erklärten Sieger*innen eines Wettkampfes sind und auch keine offiziellen Rekorde brechen. Denn sie stellen eine Form der Unterhaltung dar, die traditionelle Sportübertragungen in den Medien nicht bieten. Verkürzt auf das Wesentliche, manchmal nur wenige Sekunden lang, sind die Videos ein Destillat des Besten, was der jeweilige Sport zu bieten hat. Das beinhaltet eine ganze Portion des elterlichen Pragmatismus: Es besteht einfach keine Notwendigkeit, sich eine über Stunden ziehende Sendung anzusehen, um am Ende vielleicht die wenigen Szenen mitzubekommen, über die am nächsten Tag die ganze Welt spricht.

Trotzdem holt gerade König Fußball noch viele Menschen vor den Bildschirm. Quotensiegerin des Jahres 2022 im Sport war die DFB-Elf der Frauen. Kein anderes Sportereignis zog mehr Zuschauer*innen in den Bann des Live-TVs als das EM-Finale: 17 Millionen Menschen sahen ein mitreißendes Spiel. Schon im Halbfinale waren es rund 12 Millionen Zuschauer*innen gewesen. Allerdings ist die Zusammensetzung der Zuschauer recht einseitig:

Es scheint, als habe selbst der reichweitenstarke Fußball in Deutschland ein Problem mit der Jugend. Noch trüber wird das Bild bezogen auf den Leistungssport. So kommt eine Studie des Bundesinstituts für Sportwissenschaften zum Schluss:

Ganz offensichtlich stellt die Jugend neue und andere Sinnbezüge zum Sport her. Und es ist ihr egal, ob die vorangegangenen Generationen mitgehen. Denn sie benötigen für ihren Sport nicht die Erlaubnis oder gar das Mitwirken der Älteren. Teure Werbekampagnen werden daran nichts ändern. Zuhören, ernst nehmen und mit gestalten lassen wäre ein Anfang. Ein wichtiger Anfang. Weil wir auch endlich die seelischen Belastungen der Gen Z ernst nehmen sollten. Weil wir diese Menschen bitter nötig haben. Sie sind die beste Jugend, die es je gab.

@canadasnowboard Top to bottom run from @Cameron Spalding at Ruka Park #finland #snowboard #fyp #snowboardtiktok #viral #snowboarding #canada #slopestyle #foryoupage ♬ SUICIDE YEAR - WEEDMANE & Suicideyear

Ein Lauf ohne Wertung, nur für das Publikum. Likes und Shares sind wertvoller als Punkte.

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Über Thilo Specht

Seit 16 Jahren arbeite ich als Marketing-, Digital- und Kommunikationsstratege in Frankfurt am Main. Mit evidenzbasierten Konzepten unterstütze ich Unternehmen und NGOs dabei, Ziele zu erreichen, die Mehrwert für Menschen schaffen. 2023 begab ich mich in ein weiteres Abenteuer und lernte die Programmiersprache Swift. Erstes Resultat meiner neuen Fähigkeiten ist Wie steht's, Brudi?, eine erfolgreiche Fußball-Schiedsrichter*innen-App für die Apple Watch.

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